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1933 † 2009„Wir haben den Tod aus unserem
Leben verdrängt.“ Jeder kennt diese Aussage, doch bei genauer
Betrachtung stimmt sie nicht: kein Fernsehkrimi ohne Leiche, kein Autounfall
ohne Gaffer, keine Nachrichten ohne Bilder von zerschossenen, verstümmelten,
geschundenen Toten. Bilder, die aufrütteln wollen, oft aber nur reißerisch
sind, letztlich unseren Voyeurismus bedienen und dem Toten jede Würde
nehmen. Den spektakulären Tod, den gewaltsamen, haben wir nicht aus
unserem Leben verdrängt, im Gegenteil: Er scheint uns zu faszinieren.
Der stille Tod ist es, den wir nicht sehen wollen. Ihn, der uns Tag für
Tag umgibt, haben wir ausgelagert: in Krankenhäuser, in Altenheime,
bestenfalls in Hospize.
„Er sieht ganz friedlich aus.“ So beschreiben viele einen
Verstorbenen, wenn sie vor ihm stehen. Für mich ist es gerade diese
Friedlichkeit im Gesicht eines Toten, die meine Wertung der Dinge, die
mich im Alltag so beschäftigen, zurecht rückt und mich für
das Wesentliche empfindsam macht: sich der eigenen Sterblichkeit und der
Beschränkung seiner Lebenszeit zu stellen, sich aber auch auf seine
Möglichkeiten und Talente zu besinnen. Eines meiner wichtigsten Talente
ist zweifellos die Fotografie; sie begleitet mich seit meiner Kindheit
und ist mein stärkstes Ausdrucksmittel. Sich mit dem Tod zu beschäftigen
wurde schließlich zu dem Wunsch, Verstorbene in all ihrer Würde
und Ruhe zu fotografieren und damit die friedvolle, vielleicht auch tröstende
Seite des Todes zu zeigen.
Meine Idee, Fotos von Toten zu machen, war keine plötzliche Eingebung.
Der Anfang war vielleicht das Buch „Noch mal Leben vor dem Tod“
von Walter Schels und Beate Lakotta, das Fotografien von Menschen in Hospizen
vor und nach ihrem Tod zeigt und das ich erstmals auf der Photokina 2004
gesehen hatte. Damals hatten mich die Aufnahmen zunächst abgeschreckt,
doch schließlich habe ich lange in dem Bildband geblättert
und dabei den Messetrubel um mich vergessen. Gekauft habe ich ihn mir
damals noch nicht. Der Gedanke, Fotos von Toten zu Hause stehen zu haben,
machte mich beklommen.
Der erste Tote, den ich fotografiert habe, war mein Onkel. Er lebte als
Landwirt in einem Dorf in der Voreifel und starb vor ein paar Jahren nach
langer Krankheit. Seine Verwandten, so auch ich, konnten in einem Aufbahrungsraum
des Bestatters von ihm Abschied nehmen. Das gab mir die Gelegenheit, ihn
zu fotografieren. Ich hatte eines der Fotos noch am Tag des Begräbnisses
seiner Tochter, meiner Kusine, gezeigt. Sie besah sich die letzte
Aufnahme ihres Vaters lange. Schließlich fragte sie mich, ob sie
sich das Bild aufstellen könne, ob so etwas denn ginge. Es sei doch
das Foto von einem Toten und so was gehöre sich vielleicht nicht;
was denn die Leute da dächten. Ich sagte ihr, das komme darauf an,
was sie beim Anblick des Bildes empfinde. Bis heute steht das Foto ihres
toten Vaters in ihrem Wohnzimmer. Ich denke, es war diese Reaktion meiner
Kusine, die stille und andächtige Betrachtung des Totenbildes,
die mich bewog, aus einer einzelnen Gelegenheit ein fotografisches Projekt
zu machen.
Im Mai 2008 wandte ich mich an das Bestattungshaus Pütz & Roth
in Bergisch Gladbach und trug mein Projekt vor. Ich brauchte Herrn Fritz
Roth nicht lange zu überzeugen; er eröffnete mir die Möglichkeit,
in seinem Haus Aufnahmen von Verstorbenen zu machen. Von Anfang an hatte
Behutsamkeit bei diesem Projekt oberste Priorität. Zunächst
brauche ich für die Aufnahmen das Einverständnis der Angehörigen,
die von mir die verbindliche Zusage erhalten, die Fotos nur in einem angemessenen
und pietätvollen Rahmen auszustellen oder zu veröffentlichen.
Ich fotografiere den Toten im offenen Sarg in einem der Abschiedsräume
von Pütz & Roth. Der Verstorbene wird dabei von mir nicht berührt
oder gar zurechtgerückt. Auf eine künstliche
Ausleuchtung verzichte ich und versuche mit dem vorhandenen Licht auszukommen.
Ich verwende eine Großformatkamera mit Stativ und fotografiere auf
Schwarzweißfilm, den ich selbst weiterverarbeite. Bei der Aufnahme
konzentriere ich mich meist streng auf das Gesicht des Toten. Die Fotografien
sollen hell und klar sein, sanft und friedlich, aber jedes Detail zeigen
und nichts beschönigen. Der Tote soll so gezeigt werden, wie er ist,
mit all seiner Würde. Jede Dramatik, jeder Pomp und jeder Kitsch
sind dem Thema nicht angemessen.
Fotografie ist, sofern sie einen künstlerischen Anspruch hat, ein
Wechselspiel zwischen Motiv und Fotograf auf der einen, und der fertigen
Aufnahme und dem Betrachter auf der anderen Seite. Ohne den ersten Teil
kann der zweite nicht stattfinden, sonst wären Fotos beliebige Zufallsprodukte.
In meinem Fall bedeutet das: Bevor ich die Kamera aufbaue, stehe ich zunächst
vor dem Toten und betrachte ihn, still und intensiv. Dieser Moment ist
wesentlich, denn nur so kann es mir gelingen, die Stille, die sich in
mir einstellt, in meine Aufnahme zu legen und sie letztlich wiederum auf
den Betrachter meines Fotos zu übertragen.
Diese fotografische Arbeit erfüllt mich mit in einer Weise mit Gelassenheit
und Ruhe, die ich selbst nicht vermutet habe. Bislang habe ich noch keinen
Fototermin bei Pütz & Roth abgesagt – was ich mir vorbehalte.
In einem Fall ist mir das jedoch schwergefallen: Der Verstorbene war ein
zwölfjähriger Junge. Da ich noch nie ein totes Kind gesehen
habe, habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, meine anfängliche
Zusage zurückzunehmen, habe es aber schließlich nicht gemacht.
Als ich vor dem verstorbenen Jungen stand, wurde mir bewusst, dass Sterblichkeit
keine Eigenschaft des Alters, sondern des Menschen an sich ist. Keine
neue Erkenntnis, sicher. Aber doch eine, die selten ins Bewusstsein dringt.
Ich denke, die Fotografie von dem verstorbenen Jungen ist eine meiner
besten, auf jeden Fall eine meiner wichtigsten.
Als Anerkennung für ihr Einverständnis erhalten die Angerhörigen
von mir zwei Abzüge im Passepartout kostenlos und weitere zum Selbstkostenpreis.
In einigen Fällen habe ich Rückmeldungen erhalten. So berichtete
mir eine Witwe, dass sie den Umschlag mit den Fotos von ihrem verstorbenen
Mann gemeinsam mit ihrer Tochter geöffnet hatte und die Bilder nach
kurzer Betrachtung erst einmal beiseite legen musste. Einige Tage später,
so sagte sie mir, habe sie sich die Aufnahmen zusammen mit Freunden noch
mal angesehen und sie als sehr friedlich, geradezu als schön empfunden.
Schließlich habe sie sich ein Foto ausgestellt. Es helfe ihr in
ihrer Trauer.
Werner Kirsch
Dieser Text ist in leicht veränderter Form
erschienen in:
Fritz Roth, Georg Schwikart, Nimm den Tod persönlich, Gütersloher
Verlagshaus 2009
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